Stuttgarter Zeitung vom 29.06.2000

Eine Frage der Kunstfreiheit

Die Vorgänge in Heilbronn um Terrence McNallys "Corpus Christi'' - Bombendrohungen und gewalttätige Demonstrationen fanatisierter Glaubenseiferer - sind noch frisch im Gedächtnis. Und auch das unwürdige Spiel in Ulm, Karlsruhe und Pforzheim, deren Intendanten die Heilbronner Inszenierung zuerst eingeladen hatten, dann aber unter dem Druck der Straße und von Teilen ihrer Gemeinderatsfraktionen einen Rückzieher machten, sind noch in Erinnerung. Dass derartige Vorgänge noch überboten werden können, schien unvorstellbar. In Kassel wurden sie jetzt überboten.

Dort fand ein "Corpus-Christi''-Gastspiel vor ausverkauftem Haus und mit anschließenden Ovationen statt. Der Preis: Kassels Intendant Christoph Nix und seine Familie erhielten Morddrohungen, das Theater musste vor der Vorstellung mit Hunden nach Sprengstoff durchsucht werden. Nix war zuvor von der hessischen Landesregierung und von Kassels Oberbürgermeister Georg Lewandowski (CDU) unter Druck gesetzt worden, das Gastspiel wieder abzusagen. "Für die Übergriffe, die erst jetzt einsetzen, tragen der hessische Ministerpräsident und die Kunstministerin die alleinige Verantwortung'', sagte Christoph Nix in einer Stellungnahme.

Das Verhalten der hessischen CDU rief indes auch Kritik in den eigenen Reihen hervor. Thüringens Kunstministerin Dagmar Schipanski (CDU) sprach sich für die Kunstfreiheit und Auseinandersetzung mit Andersdenkenden aus, während der Filmbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland, Werner Schneider-Quindeau, unter anderem mit Blick auf Demonstrationen der Partei Bibeltreuer Christen (PBC) und der Geistlichen Gemeinde-Erneuerung, vom "Terror bestimmter religiöser Gefühle'' sprach. Und dieser Terror, so sieht es aus, wird sich wohl weiter ausbreiten, wenn in den nächsten Tagen und Wochen Gastspiele von "Corpus Christi'' in Tübingen, Freiburg, Weimar und Hamburg stattfinden. Das Erzbistum Hamburg und die Kanzlei der Hamburger Bischöfin Maria Jepsen haben bereits bekundet, das Stück verletze religiöse Empfindungen.

Unterdessen hat sich auch der Kulturstaatsminister Michael Naumann zu den Vorgängen in Kassel geäußert. Mit Besorgnis, so heißt es in seiner Stellungnahme, nehme er zur Kennntis, dass die hessische Landesregierung das Kasseler Theater unter Druck zu setzen versucht. "Dies ist ein einmaliger Vorgang'', so Naumann: "Die Freiheit der Kunst, aber auch die Informationsfreiheit der Bürger gehört zu den unverrückbaren Grundsätzen unserer Verfassung. Eine offizielle Missbilligung der künstlerischen Realisierung genau solcher Freiheit widerspricht nicht nur der Rechtsprechung, sondern auch dem liberalen Geist, der gerade in Kassel das Kunstleben maßgeblich geprägt hat.''

Von Jürgen Berger