Die Welt vom 30.06.2000 (?)

Die Tabubrecher-Buben auf Tour durch Deutschland

"Corpus Christi": Alle reden aneinander vorbei

Von Susanne Leinemann

Hamburg - Auf einem atheistischen Kreuzzug zieht eine Gauklertruppe durchs Land. Voran Josua, der Schelm, ein nächstenliebender Gottessohn mit Hang zum eigenen Geschlecht. Hinter ihm Klaus Wagner, der im gerechten Zorn entflammte Intendant des Heilbronner Stadttheaters. Dann die zwölf Jünger aus "Corpus Christi", alles gefragte Männer der Jetztzeit: der Top-Anwalt Matthäus, der Frisör Thaddäus, der Fischer Petrus. Als guter Geist schwebt über dem Zug der amerikanische Erfolgsautor Terrence McNally und geleitet die Rastlosen auf ihrer Tour "Freiheit der Kunst 2000". Von ihm stammt das Wort - das auf der Bühne gesprochene. Aber es bringt keinen Frieden.

Je schräger die Heilbronner Schauspieler in fremden Theatern ihre Frauenperücken zum bacchantischen Abendmahl aufsetzen, je nackter sie zur Taufe schreiten, je schriller sie ihre Schwulenzoten reißen, desto lauter jaulen die Gegner. Wer in Kassel, Hamburg, Weimar, Tübingen und Freiburg zum Kreuzzug für Kunstfreiheit trommelt, der dreht die Zeit zurück. Seitdem das Stück "Corpus Christi" von Heilbronn aus aufgebrochen ist, um mit inszenierten Schlachtrufen gegen christliche Engstirnigkeit ins Feld zu ziehen, scheint Deutschland wieder längst überwundenen Spielregeln zu gehorchen.

Ulm, Karlsruhe und Pforzheim verschließen wie im Mittelalter ihre Stadttore, und die Vögte der öffentlichen Meinung bestimmen: Hier kommt kein Gotteslästerer hinein. Landesfürsten melden sich zu Wort (s. WELT v. 24. Juni) und missbilligen die Aufführung. Sogar Kulturkönig Michael Naumann hat sich dazu geäußert, unzeitgemäß der modernen Liberalität verhaftet: "Die Freiheit der Kunst gehört zu den unverrückbaren Grundsätzen unserer Verfassung."

Jede Institution, die in den letzten Jahren totgesagt wurde, ist nun auch beim Streit um "Corpus Christi" lautstark dabei. Allen voran das Theater. Dicht gefolgt von den Kirchen, verfangen in der Existenzfrage auch sie. Zu guter Letzt die Politik, die das Kainsmal der Imagekrise auf der Stirn trägt. Lange haben die drei nicht mehr so heftig gestritten.

Man schimpft über- und gegeneinander, aber verweigert sich dem kommunikativem Miteinander, das Theater, Kirchen und Politiker sonst ständig im Munde führen. Kaum ein Kirchenvertreter, aktiver Gläubiger oder konservativer Politiker wurde gesehen, der in einer anschließenden Diskussion versucht hätte, dem selbstzufrieden glaubensfreien Publikum einmal das Tabu zu erläutern, das hier so routiniert gebrochen wird. Das Tabu ist ein rares, kostbares Wesen in diesen Tagen.

In Hamburg jedoch, wo man den unterkühlten Charme des diskreten Glaubens pflegt, meldet sich niemand verletzt nach 180 Minuten Spielzeit in der Kulturfabrik Kampnagel. Eher ist der Tenor: Das war uns nicht radikal genug. Dabei muss man kein christlicher Fundi sein, um von der zotigen Bühnenpredigt in seinen religiösen Gefühlen verletzt zu sein. Aber es kommt nichts. Kein Protest. Kein Wort der Kritik. Vermutlich weil kein zu Verletzender da war. Denn noch sortiert sich das Publikum streng nach "Dafür" und "Dagegen".

Aber wieso gehen all die kühlen Leute hin, wenn ihnen doch Religion so schnuppe ist? Christen! Wenn es irgendwo verlorene Schafe einzufangen gibt, dann hier.