Der Tagesspielgel vom 08.07.2000

McNallys "Corpus Christi"

Jesus würde sich das Stück nicht ansehen - Der Skandal aber ist ausgeblieben - Aufführung am Theater in Weimar

Kerstin Decker

Bei Bad Kösen steht ein Wegweiser, gelb und kühl-sachlich wie jeder andere: "Himmelreich 1 km". Vielleicht sind die "bibeltreuen Christen" schon hier abgebogen. Wäre Weimar nicht ein Umweg?

Heute klingt sogar der Himmel wie eine Drohung. Gegen den Autor der Stücks, das abends nach Weimar kommt, haben Islamisten in London längst die Fatwa verhängt. Dabei geht es in "Corpus Christi" gar nicht um Mohammed. Der Lohn für eine ausgeführte Fatwa ist das Himmelreich. Und wer weiß, wer sich dort oben noch aufhält. Auch die geistigen Ahnen jener "bibeltreuen Christen", die dem Heilbronner Theater zur Premiere von "Corpus Christi" Mord- und Bombendrohungen schickten? Obwohl es viel schwieriger ist, sich christlich nach ganz oben durchzubomben. Trotzdem. Immer mehr Intendanten und Bürgermeister bekamen in den letzten Monaten Post, sie hätten ihr Leben verwirkt. Seitdem das kleine Heilbronner Theater mit seinem "Corpus Christi"-Stück so todesmutig spielt, laden es andere Bühnen öfter mal zu sich ein. Aus Solidarität. Manche laden es freilich auch wieder aus. Karlsruhe! Da sollte parallel zu "Corpus Christi" im Kleinen Haus "Die lustige Witwe" laufen. Angekündigt waren eine Demonstration sowie eine Gegendemonstration, die beide gar nicht der "Lustigen Witwe" galten. Aber die Intendanz sagte trotzdem ab. Oder die hessische Landesregierung! Gerade rügte sie das Theater Kassel wegen der Aufführung von "Corpus Christi". Handelt es sich bei der hessischen Landesregierung um einen natürlichen Verbündeten des Londoner Fatwa-Scheichs und der "bibeltreuen Christen"? Und was haben ein Fatwa-Scheich, die "bibeltreuen Christen" und eine Landesregierung mit Theater-Spielplänen zu tun?

Der Tagesspiegel schrieb nach der New Yorker Premiere des Stücks von Terrence McNally im Oktober 1998: "Dass ,Corpus Christi' noch heute solches Aufsehen erregt, liegt an dem derzeitigen gesellschaftlichen Klima in den USA: Die konservative Rechte hat sich von ihrem originären Thema ,Weniger Staat, mehr Wirtschaft' abgewandt und führt nun einen Kreuzzug gegen Homosexualität, Abtreibung und liberale sexuelle Moral." Es klang ein wenig nachsichtig. Wie man über Kindereien redet. Und nun sind wir das amerikanischere Amerika?

Vor dem Nationaltheater steht eine heftig gestikulierende Gruppe. Aha, die religiösen Eiferer. Jeder "Corpus Christi"-Besucher weiß, dass das eigentliche Spektakel immer vor dem Stück stattfindet. Also keine Angst zeigen, vielleicht haben sie die Bombe gar nicht mitgebracht. Alle tragen schwarze Haare. Eine radikale Satanisten-Splittergang? "This performance ...", hebt ihr Führer mit großer Gebärde an. Und spricht - vom "Faust". Japaner auf Goethe-und-Schiller-Tour. Es ist enttäuschend. Kein religiöser Eiferer weit und breit. Nur unter den Gästen - die meisten sind gekleidet wie ein veritables "Lustige Witwe"-Publikum und auch ungefähr so alt - spürt man eine gewisse erregte Feierlichkeit. Lebensgefährliches Theater. Innen sieht es aus wie ein Flughafen. Leibesvisitation, Metalldetektoren. Und die Handtaschen bitte auf die Tische legen! Ein Fotograf beschwert sich, dass die Landeskirche ihre erste Protestkundgebung auf 19.30 Uhr gelegt habe, wenn das Stück schon begonnen habe.

Die nackten Täuflinge

Das corpus delicti. Taufszene auf nackter, schwarzer Bühne mit Seitengittern. "Ich segne dich, Rolf Rudolf Lütgens. Ich taufe dich im Vertrauen auf das göttliche Wesen in dir. Ich liebe dich, Rolf Rudolf Lütgens. Ich gebe dir den Namen Simon." Rolf Rudolf Lütgens heißt wirklich Rolf Rudolf Lütgens. Das war McNallys Idee. Eine Gruppe Schauspieler spielt eine Gruppe schwuler Schauspieler, die die Passionsgeschichte spielt. Rolf Rudolf Lütgens zieht sich aus, tritt nackt unter die Dusche (Taufe), zieht sich wieder an. Nach der fünften Taufe beginnt man mitzuzählen. Noch sieben Apostel. Und wenn das mit den Schauspielern, die schwule Schauspieler spielen, nun McNallys einzige Idee war? "Chimchimeni. Chimchimeni. Chim-chim-chemi. Der Mann aus dem Schornstein, der hat was für Sie!" Richtig, die Heiligen Drei Könige bringen Geschenke. Szenenbeifall für sie. Oder doch für den Mann aus dem Schornstein? Maria, sehr maskulin, klagt über Wundsein an der Brust. Eine selbstvergessene Lustige-Witwen-Fröhlichkeit legt sich über das Theater. Dass Skandale soviel Spaß machen können! Weimars Oberbürgermeister ist auch da. Er hat sich gegen die eigene Landesregierung und für das Stück in Weimar eingesetzt. Es wäre fatal, hat er gesagt, wenn ausgerechnet von Weimar ein Signal des Verbots von Kunst und Kultur ausginge. Sicher ist er jetzt befreit. Mein Gott, Herr Vogel, was soll an Chimchimeni so gefährlich sein?

Und verstehen diese "bibeltreuen Christen" und "christliche Mitte" denn nicht, dass McNally eine männliche Maria brauchte, weil sie sein einziger Einfall war? Nun gut, und Corpus Christi natürlich. Corpus Christi meint ja gar nicht den Körper Christi, sondern den Ort in Texas, aus dem der Autor stammt, sagt in der Pause eine alte Dame zur anderen. Und der habe eben eine schwere Jugend gehabt. So als Schwuler in Texas. Die andere nickt mit verzeihendem Wohlwollen. Draußen vor dem Goethe-Schiller-Denkmal liegt jetzt ein flammendes Kreuz aus Teelichtern. "Jesus ist der Herr! Jesus ist der Herr! ... der Herr aller Fälle", wiederholen die christlichen Protestsänger in großem Halbkreis. Goethe hält den Lorbeerkranz schützend über sie. Oder ist das eine abwehrende Geste? Goethe, der Heide, hätte sicher auch eine Bombendrohung bekommen. Schon für seine Überlegung, dass am Ende doch jeder seine eigene Religion habe. Und jeder sich seine eigene bilden dürfe: "Dies tat ich dann mit großer Behaglichkeit." Das eigentlich Teuflische für diese Sänger liegt wohl in jeglichem Selber-bilden-Wollen. In der autonomen Kultur überhaupt. Der Religionsphilosoph Paul Tillich nannte diese Position "Heteronomie". Eine behauptete Gottesgesetzlichkeit, die selbst so merkwürdig areligiös ist. Weil sie nicht spürt, wie sie Gott zu einer bloßen Welttatsache neben anderen macht. Vielleicht hat Dorothee Sölle Recht. "Lebte Christus heute, er wäre Atheist."

Oder Schwuler, natürlich. Eben der Geringste von allen. Wo hätte es diese Botschaft vor ihm gegeben: Dass jeder Mensch und also göttlich ist. Die Antike kannte sie nicht. Aber das "Corpus Christi" würde sich Jesus sicher nicht anschauen. Dieses wiederkehrende "Du bist geheilt, Matthäus!" - "Und er ging nie wieder in seine Anwaltskanzlei und verkaufte sein Auto." Ach, Amerika! Und dein kindlicher Materialismus der Wunder! "Corpus Christi" ist in seiner Harmlosigkeit eher etwas für die religiösen Sänger vor dem Theater. Aber eben die würden es sich nie anschauen.

Gute Laune

Der Beifall der Wohlwollenden brandet. Hatte ein Jünger vorhin nach kurzem jesuanischen Gewalt-Ausbruch nicht gefragt: "Ich dachte, wir sollen immer die andere Wange hinhalten?" Und die menschlich-allzumenschliche Antwort erhalten: "Da hatte ich eben gute Laune!" Solchen Szenen gilt der Applaus. Dem Operettenhaften im Skandal. Und dem Mut der Schauspieler.

Wir erleben am Anfang des 21. Jahrhunderts noch einmal, was das 18. Jahrhundert, vollends das 19. längst hinter sich brachten. Diesmal als Provinz-Komödie. Jedoch eine mit Todes- und Bombendrohungen.

Zur Diskussion bleiben viele. Die Evangelische Akademie Thüringens würde jetzt so gern über Bataille und die Verwandtschaft der religiösen und sexuellen Ekstase reden. Die junge strenggläubige Vikarin versteht das Thema nicht. Einem schwulen Theologen sind alle sonstigen Ekstasen noch immer egal, so begeistert ist er vom Stück. Der jugendlich-bezopfte Leiter der Oberammergauer Passionsspiele zeigt sich reservierter. Dieses "Gottes Sohn! Gottes Sohn!" nerve ihn total. Und der wirklich interessante Punkt - Warum verrät Judas Jesus? Aus enttäuschter Liebe natürlich! - völlig verfehlt.

Gegen "Corpus Christi", hört man, seien die diesjährigen Oberammergauer Passionsspiele hochexpressives Avantgarde-Theater.