Schwäbisches Tagblatt, 03.07.2000

Pfui! Pfui! Pfui!

Gegendemo stahl Corpus- Christi-Kritiker auf dem Tübinger Marktplatz die Show

TÜBINGEN. Der katholische Pfarrer Winfried Pietrek verweigerte am Samstag der Stadt Tübingen seinen Segen. Die zahlreichen Gegendemonstranten mit ihren friedlichen und kreativen Störungen hatten den Gottesmann in Rage gebracht. In seiner zweistündigen Rede auf dem Marktplatz warnte er vor dem Theaterstück "Corpus Christi", das die Stadt in eine Art "Sodom und Gomorrha" verwandeln werde. Gegendemo

Pünktlich um elf Uhr hatte sich Pietrek auf dem Treppchen vom "Teegarten", der den Gottesmann mit Strom versorgte, postiert. Ein kleiner Trupp von rund 30 Anhängern und Platzordnern drängte zu dem Redner hin, etwa 60 weitere Zuhörer waren lose über den Marktplatz verteilt. Er sei vor Störern gewarnt worden, teilte er mit. "Aber was kümmert es die deutsche Eiche, wenn sich ein Borstenvieh an ihr reibt?"

Pfarrer Pietrek Seit Wochen ist Pietrek auf Protest-Tournee gegen das Theaterstück "Corpus Christi" von Terrance McNally. Die Heilbronner Inszenierung ist am kommenden Samstag als Gastspiel in Tübingen zu sehen. Der Pfarrer und Aktivist der Rechts-außen-Partei Christliche Mitte nimmt das Stück, mit seiner freizügigen Auslegung des Lebens Jesu mit seinen Jüngern zum Anlass, gegen Homosexuelle, Ausländer sowie den Sittenverfall und für eine deutsch-nationale Gesinnung zu agitieren.

Plötzliches Gelächter irritierte den Redner: Von seinem Platz aus konnte er nicht sehen, dass sich von der Haaggasse her eine Prozession näherte. Dunkle Kutten trugen einen Baldachin und ein Transparent mit der Aufschrift: "Die Ungläubigen sollst du nicht leben lassen. www.gott.de".

Ein Prediger mit mächtiger Stimme schritt dem Zug voraus. Dann ertönte elektrisches Glockengeläut aus einigen Fenstern hoch über dem Platz. Eine zweite Mönch-Kombo schlurfte übers Kopfsteinpflaster und haute sich in gleichförmigem Rhythmus ein Kreuz vor den Kopf.

Pietrek ließ sich zunächst nicht beirren, schwadronierte über den "Schweinestall", womit er sowohl die Theaterhäuser in Heilbronn und Tübingen, als auch diverse Zeitungsredaktionen meinte, sowie über "die armen Irren aus der Homo- und Kulturszene". "Hitler war diabolisch. Aber selbst in seiner Zeit hat man Christen nicht so angegriffen wie hier."

Dabei musste man schon gut hin hören, wenn man verstehen wollte, was die Gegendemonstranten, die dem autonomen Spektrum zuzurechnen waren, skandierten: Etwa "Gott unser Vater geht nicht ins Theater" oder "Bekämpft das Böse in jeder Möse, bekämpft es ganz in jedem Schwanz" lauteten ihre parodistischen Parolen.

Abgesehen von dem gelegentlichem Glockengeläut, war den Gegendemonstranten daran gelegen, dass man den Priester vernehmen konnte: "Besser als er selbst können wir den gar nicht bloßstellen", meinte einer von ihnen. Nach einer Stunde kochte Pietrek, seine Stimme zitterte vor Wut. "Ich könnte sie auffordern, diese Randalierer dahinten zu verhauen. Aber wir Christen tun so etwas ja nicht."

Kurz darauf konnte sich Pietrek selbst kaum mehr im Zaum halten. Er stürzte auf einen Demonstranten los, besann sich dann aber eines Besseren. Jetzt war für den Geistlichen Schluss mit dem Erbarmen: "Pfui Tübingen! Pfui, pfui, pfui. Pfui Frau Oberbürgermeisterin. Von einer Frau hätte ich mehr Schamgefühl erwartet. Würden Sie Ihre eigene Familie auch so nackt präsentieren, wie es Jesus und seinen Jüngern in diesem Schundstück geschieht?"

Winfried Pietrek ist in der rechten Szene kein Unbekannter. Er ist Aktivist der Christlichen Mitte, die auf dem Marktplatz ihr Info-Material verteilte. Er tritt unter anderem bei Kongressen und Veranstaltungen der Deutschen Konservativen neben Alfred Mechtersheimer, dem Chef der nationalistischen Deutschlandbewegung und Joachim Siegerist, der bereits wegen Volksverhetzung verurteilt wurde, als Redner auf.

Seine Partei richtet sich gegen eine liberale Gesellschaftsordnung. Ihr Ziel ist die Unterordnung des Einzelnen unter das "gottgewollte Naturrecht und Sittengesetz" und die "Auslöschun egozentrischer Ansprüche auf Emanzipation". Besonders tat sich die Partei mit ihren Kampagnen gegen Abtreibung und "Islamisierung Deutschlands" hervor.

"Ich habe den Eindruck, Pietrek wird immer aggressiver", meinte der Regisseur von "Corpus Christi" Harald Siebler. Er beobachtete die Kundgebung mit einigem Abstand vom Lammhof aus. In Kassel, wo das Stück Ende Juni gezeigt wurde, habe sich Pietrek noch damit begnügt, mit der Glocke vor dem Theater auf und ab zu gehen und für die Schauspieler zu beten. "Für mich sind das heute latente Aufforderungen zur Gewaltanwendung", fand Siebler.

LTT-Intendant Knut Weber, der sich das Spektakel ebenfalls ansah, kommentierte die Kundgebung knapp mit "Schmierentheater".

Rund 120 Demonstranten, Gegendemonstranten und Zuhörer nahmen an der Veranstaltung teil. 100 Polizeibeamte hielten sich bereit. Immer wieder gab es heftige Diskussionen zwischen Teilnehmern am Rande der Veranstaltung. Aber zu keinem Zeitpunkt sei es kritisch gewesen, waren sich der Tübinger Polizei-Sprecher Ewald Raidt und Rainer Kaltenmark vom Tübinger Ordnungsamt einig. Die Polizei verfolgte eine auffällige Deeskalations-Strategie.

Andere religiöse Gruppierungen traten nicht in Erscheinung. Nur der Bund Freier Bürger, eine Partei, die gegen "Scheinasylanten, soziale Trittbrettfahrer, Eurokraten und ein verkürztes Geschichtsbild" eintritt, leistete Pietrek Beistand.

"Ich kann’s nicht mehr ertragen. Die Party geht los", hauchte einer der Organisatoren der Gegendemo erschöpft in sein Handy. Dann grollten AC/DC’s "Hell’s Bells" von oben herunter und die "dämonischen Randalierer" tanzten über den Platz.

Pietrek ließ sich das letzte Wort nicht nehmen: "Sie haben verwirkt, sich Deutsche zu nennen", schmetterte er den Demonstranten Hass erfüllt entgegen. Die hatten nämlich bei der Deutschlandhymne am Schluss der Kundgebung nicht stramm gestanden.